Kenne deine Grenzen und handle dementsprechend - leichter gesagt als getan. Denn vielen ist gar nicht klar, was genau eigentlich Grenzen sind und wann die eigenen überschritten werden. In diesem Artikel erfährst du, was die Psychologie von Grenzen hält, was sie mit unserem Gehirn machen und wie du dank einfacher Schreibübungen deine Grenzen herausfinden kannst.

Was wir meinen, wenn wir von Grenzen sprechen
Das Wort Grenzen kann in unterschiedlichen Kontexten verwendet werden. Im geografischen Sinn bezieht es sich oft auf die Flächen von Ländern, im sozialen Sinn meint es beispielsweise gesellschaftliche Unterschiede, die manche Menschen daran hindern, gleichermaßen an allen Privilegien teilnehmen zu können.
Ich stelle mir die psychologische Grenze sozusagen als fiktiven (erfundenen) Raum vor, der sich für jeden Menschen individuell definiert - und auch von den Räumen anderer abgrenzt. Bewegen sich andere Menschen zum Beispiel innerhalb unseres individuellen Raums, ist alles okay. Wird aber die Grenze des Raums überschritten, ist das im wahrsten Sinne des Wortes eine Grenzüberschreitung. Und das kann für jeden Menschen ganz unterschiedlich aussehen und kann sich vor allem unterschiedlich anfühlen.
In der Bedeutung sind Grenzen in der Psychologie also nicht gleich. Sie sind individuell. Warum das so ist, weiß die Psychotherapeutin und Diplom Psychologin Karolin Ewald: "Es spielen das eigene Wertesystem, die eigenen Bedürfnisse so wie auch die eigenen Erfahrungen im Umgang mit Menschen eine Rolle. Auch das Nähe-Distanz-Empfinden leitet sich daraus ab."
Warum ist es wichtig, Grenzen zu setzen?
Nein ist sozusagen das Zauberwort, wenn es um persönliche Grenzen geht. Gerade mit Blick auf Stress kann es helfen, Grenzen aktiv zu setzen. "Für unsere psychische und körperliche Gesundheit ist es grundlegend, unsere Grenzen zu achten und zu schützen. Missachten wir das, fühlen wir diese Disharmonie in uns und das kostet auch enorm viel Energie. Der Körper wird müde, kraftlos und erschöpft, die Lebensfreude sinkt", erklärt Karolin Ewald.
Grenzen zu setzen heißt nicht, passiv etwas abzulehnen - sondern sich aktiv für die eigenen Bedürfnisse einzusetzen. "Grenzen werden nicht nur verbal überschritten, auch körperliche Berührungen kann der oder die eine als angenehm empfinden, die oder der andere als Belästigung", so Karolin Ewald. Nein zu einer Sache bedeutet also oft Ja zur persönlichen Grenze.
"Menschen die Grenzen setzen, vermitteln dem Umfeld einen klaren Standpunkt, der für beide Seiten angenehm ist." (Karolin Ewald)
Was passiert im Gehirn, wenn wir Grenzen setzen?
Was für einzelne Personen eine Grenze ist oder nicht, legen im Gehirn verankerte Muster fest. Diese haben wir von Kindesbeinen an erlernt. Sie sind damit zur Gewohnheit geworden. Das erklärt mir Karoline Ewald: "Diese antrainierten Gewohnheiten passen irgendwann nicht mehr wie zu klein gewordene Schuhe." Als Grund führt die Psychotherapeutin an, dass viele Kinder von klein auf lernten, es allen Recht zu machen, statt ihre persönlichen Grenzen einzuhalten. Das nehmen wir dann mit ins Erwachsenenleben.
"Die eigenen Grenzen überschreiten zu lassen, zieht zwangsläufig Stress, Überforderung, Unzufriedenheit, Hilflosigkeit, Ängste und Depressionen nach sich. Oftmals bringen Situationen, wo Privatleben mit beruflichem Erfolg vereint werden will, das Fass zum Überlaufen. Alles wird zu viel. Das wird dann beschrieben mit: 'Ich funktioniere nur noch. Aber wo bleibe ich, ich habe keine Zeit mehr für mich selbst. Ich bin in einer Sackgasse.'"
Wie schaffe ich es, Grenzen zu setzen?

"Je besser wir uns selbst kennen und erkennen, unsere Bedürfnisse, Werte und Lebensträume definiert haben, unseren aktuellen Standort und unsere Hindernisse kennen, desto besser wissen wir, was wir wollen und was wir nicht wollen. Eine Grundvoraussetzung ist auch zu wissen, mit welchen Anlagen, Potenzialen, Fähigkeiten wir auf die Welt gekommen sind", erklärt Karolin Ewald.
Gerade um diese Anlagen und Co. zu entdecken, kann eine Therapie sinnvoll und empfehlenswert sein. Denn mithilfe dieser können laut Karolin Ewald alte Denkmuster reflektiert und neue, gesunde etabliert werden: "Bezüglich der Grenzen wird erarbeitet, was als Grenzüberschreitung angesehen wird, wie es wahrgenommen wird, woran man es erkennt und wie es sich anfühlt, um dann förderliche Strategien zu finden." Aber du für dich kannst natürlich auch schon mal daran arbeiten, deine Grenzen zu hinterfragen und neu zu definieren. Kreatives Schreiben kann dir dabei helfen.
Grenzen setzen mit kreativem Schreiben
Stelle dir folgende Ausgangssituation als Beispiel vor:
Du bist mit Freund:innen im Urlaub mit dem Camper unterwegs. Vor Reisebeginn habt ihr ausgemacht, nur auf Campingplätzen zu übernachten, aber jetzt schlagen ein paar aus der Gruppe wildcampen vor, also irgendwo in der freien Natur über Nacht den Camper zu parken. So richtig wohl fühlst du dich damit nicht, weil du die Vorzüge und auch die Sicherheit eines Campingplatzes schätzt. Aber du willst kein:e Spielverderber:in sein und sagst zu. Natürlich schläfst du in dieser Nacht kaum, musst nach nur fünf Minuten im Schlafsack auf die Toilette und traust dich nicht alleine hinaus. Dann ärgerst du dich, dass du dich hast überreden lassen und nicht einfach Nein gesagt hast. Aber es ging ja auch so schnell.
Die ganze Situation mag für manche:n vielleicht nicht nach einer großen Grenzüberschreitung klingen; doch hast du hier in diesem Beispiel dein Bedürfnis nach Sicherheit und die Einhaltung vorheriger Absprachen aufgegeben. Und vielleicht waren diese Absprachen ja auch genau der Grund, warum du überhaupt für den Trip im Camper zugesagt hast. Insofern solltest du dein Gefühl ernst nehmen und dir auf keinen Fall einreden lassen, dass du "unflexibel" oder "anstrengend" seist, weil du so empfindest.
Schreibübung: Grenzen setzen
Nimm dir einen Stift und ein Papier und skizziere kurz mit Worten die Situation der Grenzüberschreitung. Das kann in Stichworten oder ganzen Sätzen sein.
Markiere mit einem Farbstift den Teil der Grenzüberschreitung, also quasi alles ab dem Moment, ab dem du nicht Nein sagen konntest und du dich unwohl gefühlt hast.
Schreibe nun diesen Teil des Erlebnisses um und lasse dich auf dem Papier so reagieren, wie du reagieren musst, um deine Grenzen einzuhalten. Was hättest du tun/sagen müssen, um deine Grenze einhalten zu können? Formuliere dafür vollständige Sätze.
Anstatt "Klar, lasst uns wildcampen" kannst du das Du auf dem Papier zum Beispiel sagen lassen "Ich fühle mich unwohl und wir hatten das vorher anders ausgemacht. Darauf habe ich mich verlassen." Oder du gibst dem Du auf dem Papier die Chance, auch nachträglich auf die Freund:innen zu zugehen und zu sagen, dass dir das nicht Recht ist.
Am Ende dieser Übung hast du für dich ein anderes Muster visualisiert. In stressigen Situationen reagieren wir oft schnell und daher nach alten Mustern. Durch die Schreibübung kannst du für dich erkennen: Du musst nicht immer Ja sagen, es gibt Möglichkeiten, deine Grenzen neutral zu kommunizieren. Gleichzeitig trainierst du durch die Schreibübung für die nächste Situation, in der eine Grenzüberschreitung droht. Und je häufiger du diese Schreibübung bereits gemacht hast, desto leichter fällt dir dann der Widerspruch - schließlich hast du die passenden Sätze schon parat.
Hinweis
Es gilt wie immer: Wenn du das Gefühl hast, dass andere deine persönlichen Grenzen ständig überschreiten und dich dies dauerhaft belastet, solltest du das Gespräch mit einer Therapeutin oder einem Therapeuten oder zumindest mit deiner Hausärztin oder deinem Hausarzt suchen.